Jesper Juul: Keine Erziehung ohne Führung

Eltern sollten ihre Verantwortung als Leitfiguren wahrnehmen. Das fordert der renommierte Familientherapeut Jesper Juul in seinem neuesten Buch. Zwar begrüsst er die Abkehr vom autoritären Erziehungsstil, aber ohne Führung funktioniere es nicht.

Jesper Juul, Sie haben bisher stets betont, dass Kinder Beziehung statt Erziehung brauchen. Jetzt verlangen Sie in Ihrem neuen Buch, dass Eltern Leitwölfe sein sollen. Schlagen Sie damit einen Richtungswechsel ein?
Nein! Ich habe von Anfang an betont, wie grundlegend wichtig die elterliche Verantwortung für die Qualität der Beziehung ist. Einige romantische Leser haben daraus jedoch geschlossen, ich würde die Bedürfnisse der Kinder wichtiger einschätzen als die der Eltern. Zugleich fiel es ihnen offenbar schwer, zu unterscheiden zwischen meiner Empfehlung, ihre Kinder ernst zu nehmen, und einer Haltung, die die Kinder Wünsche und Bedürfnisse ausleben lässt.

Wölfe, so schreiben Sie, leben in vorbildlichen sozialen Strukturen. Dennoch: Wie sind Sie ausgerechnet auf das Bild vom Leitwolf gekommen? Hätte etwas Zivilisierteres nicht besser gepasst?
Meine Absicht war vor allem, eine klare Alternative zu den allzu schöngefärbten elterlichen Haltungen aufzuzeigen und gleichzeitig die Wichtigkeit von Eltern als führenden Rollenvorbildern zu betonen.
Wenn Sie von Führung sprechen, meinen Sie nicht Herrschen, sondern eine ganz bestimmte Form von liebevoller Führung.

Führung muss durchwoben sein von Empathie, Einsicht, Mut und dem Wunsch, viel von denen und über diejenigen zu lernen, die man führt.
Das klingt freundlich. Warum scheuen sich Eltern davor zu führen?

Viele Eltern fürchten, ihre Kinder zu verletzen oder ihnen Schaden zuzufügen. Deshalb gleiten sie in einen süsslichen Erziehungsstil über, indem sie versuchen, die Kinder ständig zu überreden und zu über­zeugen. Das jedoch wird ihnen als Menschen überhaupt nicht ­gerecht – und macht daher ­ auch nicht den geringsten Eindruck auf die Kinder. Und das wiederum treibt die Eltern nach einigen Jahren in den Wahnsinn.

Heisst das, dass Kinder ohne klare Führung die Eltern schließlich in den Wahnsinn treiben?
Mehr noch: Die Kinder werden selber genauso verloren, gestresst, unzufrieden und frustriert wie ihre Eltern.

«Leitwolf sein» klingt hingegen stark. Und sicher wären viele Eltern gern Leitwölfe. Es ist aber ­alles andere als einfach …
Ich glaube, der grösste Stolperstein sitzt zwischen unseren Ohren. Wir müssen unsere Denkweise ändern, damit wir neue Werte und ein neues Verhalten annehmen können. Viele Eltern stecken fest, weil sie dazu tendieren, in Gegenteilen zu denken statt in Alternativen. «Persönliche Autorität» zum Beispiel ist eine Alternative zur veralteten Polarisierung zwischen autoritär und freiheitsbewusst.

Und wie könnte diese gute Alternative aussehen?

Eltern sollten Leuchttürme sein. Der Leuchtturm ist ein ähnliches, aber weniger einschüchterndes Symbol als der Leitwolf: Er dient dazu, den Schiffen beim Navigieren zu helfen. Und das ist es, was ­Kinder von allen Erwach­senen brauchen. In vielen ­Familien hin­gegen ­erhalten die Kinder die Position des Leuchtturms – dafür haben sie aber gar nicht die notwendige Lebenserfahrung.

Leuchtturm oder Leitwolf: Was macht die bessere Mutter, den besseren Vater aus?

Ich trage nicht gern zum Wettbewerb zwischen Müttern und Vätern bei. Sie haben ähnlich schlechte Gewohnheiten und dasselbe Potenzial, um diese Gewohnheiten zu ändern. Die Mischung aus persön­licher Verantwortung, Bindung und Autorität ist für Mütter und Väter neu. Für Kinder ist es op­timal, wenn sie beide Arten von Führung erleben zu Hause, im Kindergarten und in der Schule.

Können Eltern auch gemeinsam ein «Leitwolfteam» sein?
Oh ja! Aber es liegt in der Natur dieses Führungsstils, dass sie es unterschiedlich angehen und auch anders kommunizieren. Das ist ein grosser Vorteil für die Kinder. Bei dem Führungsstil, den ich fördern möchte, geht es nicht darum, Macht zu erlangen und zu erhalten, sondern darum, für das Wohlbefinden sämtlicher Familienmitglieder Verantwortung zu übernehmen.

Sollten Eltern immer einer Meinung sein?
Es ist praktisch, wenn Eltern in Alltagsfragen wie Ernährung, Schlafenszeiten, Kleidung oder Schule übereinstimmen. Das erspart ihnen energiefressende Konflikte. Kinder gehen locker mit den Unterschieden um, solange Eltern sich nicht darüber streiten, sondern sich darin einig sind, dass sie uneinig sind. Es ist nicht nötig, dass sie eine einheitliche Front gegen die Kinder bilden, wie das die Eltern vor zwei Generationen noch taten.

Sie thematisieren in Ihrem neuen Buch auch die Rollen von Frauen und Männern, eigentlich die gesamten gesellschaftlichen und sozialen Strukturen. Fast scheint es, als wollten Sie nicht nur die Welt der ­Kinder retten, sondern gleich die ganze Gesellschaft.

Ich habe nie gesagt, dass wir an der ­gegenwärtigen Ordnung der Dinge festhalten sollten – unser Zusammenleben erfordert noch viele Verbesserungen und Fortschritte. Die ganze Führungsfrage gilt nicht nur für Familien, sondern auch in Politik, Industrie und privaten und öffentlichen Organisationen; in allen Bereichen ist klar geworden, dass der autoritäre Stil veraltet ist und ein rein demokratischer Stil auch nicht funktioniert. Die grundlegende und extrem wichtige Aufgabe ist es nun, einen Weg zu finden, der dem Interesse aller dient, ohne die Integrität der Einzelnen zu verletzen. In dieser wichtigen Entwicklung sind die heutigen Eltern Pioniere, und ich bewundere sie für ihre Bemühungen.

Eins Ihrer zentralen Themen ist auch in diesem Buch die «Gleichwürdigkeit» von Eltern und Kindern: Funktioniert sie auch noch, wenn die Eltern klar die Leitwolffunktion übernehmen?
Selbstverständlich. Gleichwürdigkeit ist ein Eckpfeiler künftiger Führungsweisen. Sie hat nichts zu tun mit «Gleichsein» in einem politischen Sinn, sondern damit, dass man sich auf andere Menschen verlassen kann – auf eine Art, die auch deren Grenzen respektiert und ihre Gedanken, Ideen, Bedürfnisse und Emotionen ernst nimmt. Eine ganz ähnliche ­Entwicklung ist nötig im ­Zusammenleben zwischen Mann und Frau.

Sie schreiben: «Kinder sind bis zur Pubertät auf Eltern angewiesen, die ihnen als Leitwölfe Anleitung und Lebenserfahrung bieten. Ab der Pubertät hingegen wird alles anders.» Das ist aber nicht so einfach, wie es klingt.
Nichts im Leben ist einfach. Jede Entwicklungsphase, von der Geburt bis zum Tod, ist schwierig und verlangt unsere volle Aufmerksamkeit, damit sie für alle Involvierten fruchtbar wird. Wenn man sich das immer wieder vor Augen hält, werden viele ­dieser Phasen eher aufregend als problematisch.

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