Standard Artikel: Lasst die Kinder von der Leine – mehr Freiheit!

Kinder lieben unbeobachtetes Herumtoben in der Natur.
Die Freizeitplanung vieler Eltern sieht anderes vor: Einkaufscenter statt Eidechsenjagd, Bällebad statt Baumklettern Langsam lauernd drehen Autos ihre Runden, rote Rücklichter flackern, man hört nervöses Gehupe.

Auf dem Parkplatz eines schwedischen Möbelhauses am Nordrand von Wien regiert das Du-Wort. Nicht wie in seiner familiären und netten Variante, sondern wie in „du Arschloch“. So schimpft ein Familienvater im SUV einen anderen, der ihm den Parkplatz vor der Nase wegschnappt. Seine drei Kinder auf dem Rücksitz blicken sehr konsequent in ihre Smartphones.

Es ist ein frühlingshafter Samstagvormittag im März. Der Spaß für die ganze Familie – man kann ihn mit Händen greifen. Würde man Mädchen und Buben vor die Wahl stellen, was ihnen lieber ist – im Dreck zu wühlen, Feuer zu machen und Bäche zu stauen oder doch lieber im Schlepptau ihrer genervten Eltern das Wochenende bei Kunstlicht zu verbringen –, die Antwort würde wohl eindeutig ausfallen. Aber die Kinder fragt niemand.

„Dabei sehnen sich alle Kinder danach, frei und unbeobachtet draußen zu spielen“, sagt Ernst Muhr. Er hat aus der Abenteuerlust der Kinder einen Beruf gemacht. Muhr ist Co-Gründer des Vereins Fratz Graz und entwickelt seit vielen Jahren mit Beteiligung von Kindern spannende Spielräume. Auch einen Abenteuerspielplatz hat er umgesetzt. Brachräume, Bachträume Abenteuerspielplätze bilden nach, was für Kinder lange Zeit normal war, aber selten geworden ist:
ungestaltete Natur als Raum zum Spielen ohne „Bedienungsanleitung“. Ohne angelegte Wege und Spielgerät, das bestimmte Bewegungsabläufe vorgibt. Stattdessen gibt es Bäume zum Klettern, Bäche, die man stauen kann, unbefestigte Gstätten und Tiere, um die sich die Kinder kümmern. So lernen sie ganz nebenbei Verantwortung. Es gibt Betreuerinnen und Betreuer am Abenteuerspielplatz, aber die bleiben im Hintergrund. Die Kinder sollen unter sich sein, sich selbst organisieren und voneinander lernen, streiten und sich wieder versöhnen. „Nur so entwicklen sie Sozialkompetenz“, ist Muhr überzeugt.

In Deutschland gäbe es 500 Abenteuerspielplätze, in Österreich gerade einmal vier. Dabei brauchen Kinder eigentlich gar keinen Spielplatz, sagt er. „Sie brauchen Platz zum Spielen.“ Aber der wird immer knapper – angesichts von versiegelten Betonflächen, Blechlawinen und Spielverboten im Innenhof. Schon deswegen ist Muhr kein Feind regulärer Spielplätze mit Rutsche, Schaukel und Sandkiste. Die seien wichtig, weil sie zeigen, dass es fixe Plätze für Kinder gibt. „Aber abseits dessen sollte eigentlich die ganze Stadt oder der ganze Ort ein Platz für Kinder sein.“

Doch Stadt und Land sind heute baulich auf den motorisierten Individualverkehr, vulgo auf das Auto ausgerichtet; damit sind viele öffentliche Räume und Brachflächen verschwunden, die Kindern Bewegungsfreiheit und selbstorganisiertes Spielen gemeinsam mit anderen Kindern ermöglichten. Die Vereinzelung der Kinder hat aber nicht nur mit der Raumgestaltung zu tun: Sie ist auch Folge einer Individualisierung, die die abgeschottete Kleinfamilie für viele Menschen wieder attraktiv macht. In die sie sich aus einer Gesellschaft zurückziehen, die sie als nicht mehr funktionierd oder sogar bedrohlich empfinden.

Diese Tendenz ist in der Stadt, wo immer ein gewisses Maß an Durchmischung fortbesteht, weniger ausgeprägt als auf dem Land. Die Schlagwörter dazu lauten Zersiedelung, Einfamilienhaus und Elterntaxi.
Diese Entwicklung hat die kindliche Bewegungswelt in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. In den 1950er- und 1960er-Jahren haben dutzende Kinder auf ein und demselben Drahtesel Fahrradfahren gelernt. Heute unvorstellbar, da besitzt jedes Kind sein eigenes Fahrrad. Oder eher: Manche Kinder haben mehrere Räder, andere gar keines. Gemeinsame Spielkultur geht verloren. Diese Kultur bestand darin, dass die Älteren den Jüngeren etwas beibringen, selbstorganisiert und ohne dabei von Erwachsenen bobachtet und kontrolliert zu werden.

Am ehesten leben heute migrantische Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien die alte Spielkultur – in den Parks und Fußballkäfigen. Dorthin weichen sie aus, weil die Wohnungen der Eltern oft klein sind und es zuhause weder Garten noch Geigenunterricht gibt.

„Die vernachlässigten Kinder sind in Bezug auf spielerische Bewegung die privilegierten Kinder“, sagt Otmar Weiß, Universitätsprofessor und Leiter des Zentrums für Sportwissenschaft und Universitätssport in Wien. „Der Park gehört ihnen.“

Der Zugang zu Bewegung und Sport sei heute weitgehend institutionalisiert – über kommerzielle Anbieter und organisierten Vereinssport. Der kann aber nicht kompensieren, was an frühen und selbstorganisierten Bewegungsmöglichkeiten für Kinder verloren gegangen ist. Mit gravierenden Folgen, sagt Weiß: „Wenn sich Kinder nicht von klein auf ausreichend bewegen, leidet ihre geistige und soziale Entwicklung.“ Über den Körper werden ganzheitlich Fähigkeiten erworben: „Kinder organisieren sich über Bewegungshandlungen miteinander.“ Indem sie sich aneinander orientieren und sich gegenseitig beobachten, lernen sie den eigenen Körper und seine Fähigkeiten kennen. „Kinder brauchen Kinder, das ist das wichtigste Grundprinzip von klein auf.“ Rollenspiele schulen zudem Einfühlungsvermögen und Empathie – eine Fähigkeit, die heute vielen Menschen zu fehlen scheint.

Es ist Nachmittag geworden auf dem Parkplatz vor dem schwedischen Möbelhaus. Die Kinder klettern wieder auf die Rückbank des elterlichen SUV. Sie sind müde und matt geworden von der schlechten Luft, dem Kunstlicht und dem Geräuschpegel in der Einkaufshalle. Das Wort, das sie heute am öftesten von ihren Eltern gehört haben, war übrigens: „Nein.“

(Lisa Mayr, 26.3.2017) – derstandard.at/2000054765312/Lasst-die-Kinder-von-der-Leine 2017-03-30, 21.13