Remo H. Largo: Eltern reichen als Vorbilder nicht aus

Der Schweizer Kinderarzt über die Individualität der Kinder und warum das Bildungssystem einer Planwirtschaft gleicht

STANDARD: Jedes Kind ist darauf angelegt ist, sein Begabungspotenzial zu verwirklichen. Das schreiben Sie in Ihrem Buch „Das passende Leben“. Im Laufe eines Lebens verlernen viele Menschen, das eigene Potenzial zu sehen und auszuschöpfen. Warum?

Largo: Da gibt es eine Reihe von Gründen. Vielleicht muss man sich auch fragen, was denn eine ideale Entwicklung in der Kindheit wäre. Kinder kommen mit bestimmten Fähigkeiten auf die Welt, die von Kind zu Kind sehr unterschiedlich angelegt sind. Nehmen wir die Sprachbegabung, das Sozialverhalten oder das Zahlenverständnis. Während das Kind mit allen Fasern seine individuellen Begabungen realisieren will, setzen Gesellschaft und Wirtschaft andere Erwartungen in das Kind und verhindern so, dass es sich entwickeln kann, wie es ihm entspricht.

STANDARD: Was bräuchte es stattdessen?

Largo: Es geht nicht anders, als dass man auf die Individualität des Kindes eingeht. Kinder wollen sich entwickeln. Und sie wollen lernen. Wenn sie das selbstbestimmt tun können, ergibt das einen ganz großen Unterschied zum herkömmlichen Schulsystem. Sie werden dann in ihrem Selbstwertgefühl und in ihrer Selbstwirksamkeit nicht beschädigt, lernen also zu sagen: Ich mag mich, so wie ich bin, und ich schaffe es in dieser Gesellschaft. In der Volksschule ist das leider meist anders: Viele Kinder gehen nach neun Jahren mit dem Gefühl aus der Schule, ein Versager ohne Zukunft zu sein.

STANDARD: Das herrschende Bildungssystem bezeichnen Sie als Planwirtschaft. Ist die Bildungspolitik schuld daran, dass wir verlernen, unsere Individualität zu leben?

Largo: Das Bildungssystem ist eine Planwirtschaft – das klingt provokant, aber ich stehe dazu, weil ich glaube, dass die für das Bildungssystem Verantwortlichen keine Vorstellung davon haben, wie sich Kinder entwickeln. Stattdessen orientieren sie sich an den Anforderungen der Wirtschaft. Ihr Auftrag aber wäre, für eine Schule zu sorgen, in der die Kinder ihre Individualität möglichst gut entwickeln können.

STANDARD: Wie müsste so eine Schule aussehen?

Largo: Wir haben in der Schweiz eine ungewöhnliche Schule, die Villa Monte. Die gibt es seit mehr als 30 Jahren und war ursprünglich eine Montessori-Schule. Dann hat die Schule im Verlauf vieler Jahre die Lehrer langsam abgeschafft. Das heißt, es gibt keine Pädagogen, die den Kindern sagen, was sie zu tun haben. Wenn die Kinder am Morgen kommen, entscheiden sie, was sie machen wollen: lesen, rechnen, spielen, in den Wald gehen oder sich ein Kleid schneidern. Und wenn sie Hilfe brauchen, gibt es Pädagogen, die sie unterstützen. Sie entwickeln sich genauso gut wie die Kinder in der Volksschule. Der große Unterschied: Sie haben ein gutes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstwirksamkeit und sind dadurch leistungsfähiger.

STANDARD: Der Druck auf Kinder, gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen, wird aktuell nicht weniger. Statt eines gelingenden Lebens wünschen viele Eltern ihren Kindern einen guten Job.

Largo: Viele Eltern haben existentielle Ängste. Sie befürchten, dass es ihr Kind in dieser Gesellschaft nicht schaffen wird. Dadurch entsteht ein enormer Druck, der die Kinder in ihrer Lernbereitschaft beschädigt. Sie müssen weitgehend fremdbestimmt Anforderungen erfüllen, die vom Bildungssystem vorgegeben werden. Dieser Druck demotiviert die Kinder in ihrem Lernverhalten. Das Schlimmste, was die Schule den Kindern antun kann: ihnen den Glauben an sich zu nehmen.

STANDARD: „Das passende Leben“ ist so etwas wie eine Evolutionsgeschichte der Individualität. Was interessiert Sie daran?

Remo: Am Anfang stand das Bedürfnis, die Menschen besser zu verstehen. Dabei haben mir die Zürcher Longitudinalstudien sehr geholfen. Im Verlaufe von über 30 Jahren habe ich erleben dürfen, wie sich mehr als 700 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter entwickelt haben. Die Vielfalt unter den Kindern und die Einzigartigkeit jedes Kindes sind in allen Entwicklungsphasen so ausgeprägt, dass wir sie schlicht nicht ignorieren dürfen. Vielfalt und Individualität entwickeln sich auch im Erwachsenenalter noch weiter.

STANDARD: Was raten Sie Menschen, die das Gefühl haben, ein „unpassendes Leben“ zu leben?

Largo: Eine gute Art, an sich heranzukommen, ist, wenn man sich an Glücksmomente in der Kindheit, aber auch im Erwachsenenalter zurückerinnert. Wann war man glücklich? Wann waren meine Bedürfnisse befriedigt und wann nicht? Womit hatte man in der Schule große Mühe? Und fällt einem das noch immer schwer? Zum Beispiel Lesen. Es ist nicht leicht, eine Schwäche zu akzeptieren. Vielleicht denkt man, wenn man nicht gut lesen kann, man sei dumm. Aber es besteht kein Zusammenhang zwischen Lesekompetenz und Intelligenz. Ich kenne hochintelligente Menschen, die mit 70 Jahren immer noch ihre Legasthenie haben.

STANDARD: Ob jemand seine Individualität leben kann oder nicht, hängt viel vom sozialen Umfeld ab. Welche zusätzlichen Aspekte hindern Kinder daran, ihre Stärken zu leben?

Largo: Kinder können in unserer Gesellschaft nicht selbstbestimmt aufwachsen. Sie sind fremdbestimmt durch die Anforderungen der Eltern und der Schule. Sie spüren nicht mehr, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Ein weiter Schwachpunkt: Eltern reichen als Vorbilder nicht aus. Die Eltern können nicht alle Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder abdecken. Was Kinder seit jeher brauchen, sind mehrere Bezugspersonen. Sie wollen mit ihnen spannende Erfahrungen machen und von ihnen lernen. Solche Bezugspersonen fehlen den Kindern heute weitgehend. Und was noch weit schlimmer ist: Die wichtigsten Lehrmeister für Kinder sind andere Kinder, und die fehlen ihnen auch.

STANDARD: An einer Stelle im Buch schreiben Sie, dass unsere Gesellschaft im Grunde nicht besser für uns geeignet sei als ein Käfig für einen Löwen.

Largo: Ich beziehe mich auf die Rede von Friedrich Dürrenmatt Anfang der 1990er-Jahre als Václav Havel zu Besuch in der Schweiz war. Dürrenmatts Worte waren so entlarvend, dass ihm hohe Politiker und Wirtschaftsbosse danach nicht mehr die Hand geben wollten. Der Kern seiner Rede: Wir haben uns mit Gesellschaft und Wirtschaft einen goldenen Käfig geschaffen, in dem wir unsere sozialen und emotionalen Grundbedürfnisse immer weniger befriedigen können. Wohlstand allein macht nicht glücklich.

STANDARD: Ihr Fazit?

Largo: Jeder Mensch ist ein Unikat. Seine Einzigartigkeit kann er nur unter vertrauten Menschen, in einer Lebensgemeinschaft leben. Wir sind nicht für eine anonyme Massengesellschaft gemacht. (Christine Tragler, 21.1.2018)

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, studierte Medizin an der Universität Zürich und Entwicklungspädiatrie an der University of California, Los Angeles. Seit 1978 leitete er die Abteilung „Wachstum und Entwicklung“ an der Universitäts-Kinderklinik Zürich. Die Zürcher Longitudinalstudien, die er dort verantwortete, sind international einzigartig und gehören zu den umfassendsten Studien in der Entwicklungsforschung. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und Bestseller, die sich mit der menschlichen Entwicklung befassen. Seine Bücher „Babyjahre“, „Kinderjahre“ und „Jugendjahre“ gelten als Klassiker der Erziehungsliteratur. – derstandard.at