Auf der Standard online Seite beantwortet Jesper Juul alle zwei Wochen Fragen über Erziehung, Partnerschaft und Familienleben.
Wenn sich Kinder nicht alleine beschäftigen können
Verlangen Kinder ständig nach Aufmerksamkeit, ist meist das Familiengleichgewicht gestört. Doch was tun?
Frage:
Meine sechsjährige Tochter ist ein sehr lebhaftes Mädchen.
Ich wurde, als sie zweieinhalb Jahre alt war, sehr krank und dachte, dass ich sie vielleicht nicht aufwachsen sehen werde. Deshalb habe ich mein allerletztes Atom an Energie in sie gesteckt. Ich habe sie ununterbrochen „bespielt“ und mit ihr sehr viele Aktivitäten gemacht.
Mein Mann hält sich ziemlich raus und ist mir leider nie eine Hilfe gewesen – immer bekomme ich nur zu hören, ich sei an allem schuld: Dass unsere Tochter sich nicht selber beschäftigen kann, ihr Zimmer nicht aufräumt usw.
Sie kann sich tatsächlich fast nicht selber beschäftigen. Wenn sie einmal in ihrem Zimmer spielt, ist das immer sehr kurz. Dann ruft sie mich im Minutentakt, dass ich mir anschaue, was sie macht oder mitspielen komme. Wenn meine vierjährige Nichte bei uns ist, dann ist meine Tochter diejenige, die all ihre Puppen und ihr Geschirr ins Wohnzimmer bringt und mich in ihr Spiel einbindet.
Außerdem hat sie einen starken Bewegungsdrang. Sie kann fünf Stunden durchtanzen – danach nach Hause kommen, Ballettpatschen anziehen, Ballett-CD einlegen und weiter tanzen. Natürlich muss ich immer mittanzen. Ich muss direkt flüchten, weil sie mich an der Hand hält, damit ich weitertanze.
Ich weiß, dass sicher einiges schiefgelaufen ist. Bitte geben Sie mir ein paar Tipps, wie ich noch die „Kurve kratzen“ kann.
Vielen, vielen Dank!!!
Antwort:
Grundsätzlich bin ich wenig geduldig mit Menschen, deren einziger Beitrag zur Lebensqualität des Kindes darin besteht, monotone Kritik an den Bemühungen des Partners oder der Partnerin zu üben.
Eine unglückliche Symbiose wie jene zwischen Ihnen und Ihrer Tochter ist nur möglich, wenn alle Familienmitglieder kooperieren. In Ihrem Fall passiert das, weil Ihr Mann mehr Abstand hält als notwendig. Das kann man verstehen, aber er trägt zum Ungleichgewicht bei. Ihr Mann hat jedoch insofern Recht, dass Sie die Führung gegenüber Ihrer Tochter übernehmen müssen, um eine bessere Balance in der Familie entstehen zu lassen. Ihre ursprüngliche Absicht, Ihrer Tochter alles zu geben, war gut. Das erfüllte Ihr Bedürfnis, von maximalem Wert im Leben Ihrer Tochter zu sein. Allerdings war das nicht dem Bedürfnis Ihrer Tochter dienlich, die sich als eigenständiges und sozial verantwortliches Wesen entwickeln und sich dadurch als wertvolles Individuum erfahren will.
Der einzige Weg nach vorne beginnt mit einem Gespräch, an dem alle drei teilnehmen und in dem Sie die Führung übernehmen müssen.
Sie können in etwa so beginnen – aber ohne sich dabei millionenfach zu entschuldigen: „Liebe Tochter. Ich habe Euch beide zu diesem Gespräch eingeladen, weil ich Eure Hilfe brauche. Ich will einen Fehler korrigieren, den ich gemacht habe, als ich sehr krank war und dachte, ich müsste sterben. Das Ergebnis davon ist nun, dass Du von mir sehr abhängig wurdest und kaum etwas alleine machen kannst. Das ist schlecht für Dein Leben und für die Beziehung zwischen Dir und Deinem Vater. Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussehen wird. Aber ich weiß, dass ich öfter „Nein“ zu Deinen Wünschen sagen werde. Das wird Dir helfen, alleine zu spielen und andere Dinge selbständig zu machen. Ich bin mir sicher, dass wir beide eine Zeit lang frustriert und unglücklich sein werden. Trotzdem müssen wir das machen, um ein besseres Gleichgewicht für uns zu schaffen.“
Beobachten Sie die Reaktionen Ihrer Tochter und nehmen Sie diese wahr. Aber verwenden Sie nicht zu viel Zeit, um diese zu argumentieren oder zu erklären. Beenden Sie das Treffen mit einer „Familienumarmung“. Wörter alleine können die notwendige Veränderung nicht herbeiführen.
(Jesper Juul, 8.5.2016) Jesper Juul, geboren 1948 in Dänemark, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er studierte Geschichte, Religionspädagogik und Europäische Geistesgeschichte. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und ließ sich zum Familientherapeuten ausbilden. Er ist Begründer des Family Lab.
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